Daniel Kahneman und sein Erkenntnisbeitrag zum Customer Experience Management

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Am 27. März 2024 ist der Nobelpreisträger Daniel Kahneman im Alter von 90 Jahren verstorben und hat der Welt einen großen Erkenntnisbeitrag mit seinem Lebenswerk hinterlassen.

Seine Arbeit stellt die Grundpfeiler der Verhaltensökonomie dar, welche die Abweichungen von der rationalen Entscheidungsnorm eines Homo Oeconomicus versucht zu erklären. Sprich – eine Erklärung dafür liefert, warum der Mensch in Entscheidungsmomenten nicht immer nur nach rein nutzenmaximierenden Prinzipien handelt.

Kahnemans Credo dabei war, dass wenn wir das System verstehen und formen möchten, wir zunächst den darin agierenden Menschen verstehen müssen. Kahnemans Arbeit zur Dualität des menschlichen Denkens und zu den Heuristiken und Verzerrungen im Entscheidungsverhalten werden von vielen CX-Experten als wichtige Grundlagen für das Verständnis der Herausbildung von Kundenerfahrungen angesehen.

Im vorliegenden Beitrag bieten wir einen Überblick über den Lebensweg und den Erkenntnisbeitrag Kahnemans zum CX-Verständnis.

Ein kurzer Überblick zum Lebensweg von Daniel Kahneman

Die Faszination vom Menschen und die Motivation zur Ergründung seiner Komplexität leitet Daniel Kahneman in einer bibliographischen Abhandlung zu seiner Nobelpreis-Auszeichnung aus den verschiedenen Stationen seines Lebensweges her:

  • 1934: Daniel Kahneman wird in Tel Aviv geboren. Seine Familie lebte zu diesem Zeitpunkt in Frankreich, besuchte aber Verwandte in Palästina.
  • Als Einwandererfamilie aus Litauen lebte die Familie schon vor der deutschen Besatzung mit einem eher unsicheren Gefühl in Frankreich.
  • 1940er: Während des Zweiten Weltkriegs musste Kahnemans Familie innerhalb Frankreichs mehrfach fliehen und sich verstecken. In Folge eines unzureichend behandelten Diabetes stirbt sein Vater kurz vor der Befreiung Frankreichs.
  • Die frühe Phase seines Lebens stellt Kahneman selbst als sehr prägend heraus, da er sich oft mit sich selbst und der Welt beschäftigt hat und viele Überlegungen hierzu mit kindlichem Interesse zu Papier gebracht hat.
  • 1946: Nach dem Krieg wandert die Familie Kahneman nach Palästina aus, das später zum Staat Israel wird.
  • 1954: Daniel Kahneman schließt sein Studium in Psychologie und Mathematik an der Hebräischen Universität Jerusalem ab.
  • 1954-1957: Anschließend dient er in der israelischen Armee, wo er als Psychologe an der Entwicklung von Tests zur Auswahl von Offiziersbewerbern mitwirkt.
  • Bei der Entwicklung und Durchführung von Einstufungstests machte er wichtige Erfahrungen rund um die begrenzte Validität von Beobachtungsdaten und die Überschätzung von intuitiven Urteilsbildungen, die seine Arbeit zu Heuristiken und Verzerrungen beeinflussten.
  • 1958: Beginn seines weiterführenden Studiums an der University of California, Berkeley.
  • 1961: Er erwirbt seinen Doktortitel an der University of California, Berkeley.
  • Kahnemans Erfahrungen während dieser Zeit, insbesondere in Bezug auf die Vorhersagbarkeit von menschlichem Verhalten und der kognitiven Illusion, trugen dazu bei, sein Interesse an Urteilsbildung und Entscheidungsfindung zu vertiefen.
  • 1961-1978: Kahneman lehrt an der Hebräischen Universität Jerusalem.
  • In der Zusammenarbeit mit Amos Tversky (Pionier der kognitiven Psychologie bzw. Kognitionswissenschaft) beschäftigt sich Daniel Kahneman mit der Identifizierung und Beschreibung wichtiger Heuristiken in der Entscheidungsfindung und den damit verbundenen Verzerrungen. Dies legte den Grundstein zum Verständnis über das menschliche Urteilsvermögen unter Unsicherheit.
  • 1974: Veröffentlichung des einflussreichen Artikels "Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases" zusammen mit Amos Tversky.
  • Mit ihrer folgenden Arbeit an der „Prospect-Theorie“ legen Amos und Kahneman den Grundstein für die weiteren verhaltensökonomischen Betrachtungen. Die Prospect Theorie stellt eine Abkehr von der traditionellen Erwartungsnutzentheorie dar, die annimmt, dass Menschen Entscheidungen auf der Grundlage des erwarteten Nutzens ihrer Handlungen treffen. Stattdessen argumentierten Kahneman und Tversky, dass Menschen Entscheidungen auf der Grundlage potenzieller Gewinne und Verluste im Vergleich zu einem Referenzpunkt treffen. Hierbei können Verluste stärker empfunden werden als gleich große Gewinne (Verlustaversion)
  • 1978-1986: Professor an der University of British Columbia in Kanada.
  • In den Folgejahren verstärken Kahneman und Tversky ihre Zusammenarbeit mit Richard Thaler, einem Wirtschaftswissenschaftler, was zu wichtigen Experimenten und Theorien führte, die zentrale Konzepte der Verhaltensökonomie wie der Endowment-Effekt und die mentale Buchführung illustrierten.
  • 1986-1994: Kahneman arbeitet als Professor an der University of California, Berkeley.
  • 1993: Übernahme der Eugene-Higgins-Professur für Psychologie an der Princeton University.
  • 2002: Er erhält den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine Arbeit zur Prospect Theory, die er gemeinsam mit Amos Tversky entwickelt hat.
  • 2011: Veröffentlichung seines Buches "Schnelles Denken, langsames Denken" (Originaltitel: "Thinking, Fast and Slow").
  • 2024: Daniel Kahneman verstirbt im Alter von 90 Jahren.

Wissenschaftlicher Erkenntnisbeitrag für die Erklärung menschlichen Entscheidungsverhaltens

Daniel Kahnemans wissenschaftliche Beiträge haben die Landschaft der Verhaltensökonomie und Psychologie maßgeblich verändert. Sein Einfluss ist weitreichend und hat die Art und Weise, wie wir über Entscheidungsfindung und menschliches Verhalten denken, neu definiert.

  • Heuristiken & Verzerrungen: In ihrem Beitrag "Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases" enthüllen Daniel Kahneman und Amos Tversky drei zentrale Heuristiken, die Menschen bei Entscheidungen unter Unsicherheit anwenden: Repräsentativität, Verfügbarkeit und Anpassung an einen Anker. Diese Heuristiken erleichtern zwar oft die Urteilsbildung, führen jedoch auch zu systematischen Fehlern, die nicht auf Wunschdenken, sondern auf die Anwendung dieser kognitiven Abkürzungen zurückzuführen sind. Ein tieferes Verständnis dieser Prozesse und der daraus resultierenden Verzerrungen kann dazu beitragen, Entscheidungsfindungen in unsicheren Kontexten zu verbessern.
  • Prospect Theory: Die von Kahneman & Tversky gemeinsam entwickelte Prospect Theory (auch Neue Erwartungstheorie) beschreibt das menschliche Verhalten in ökonomischen Entscheidungsprozessen. Die Theorie stellt eine Abkehr von der klassischen Annahme des rational handelnden Homo Oeconomicus dar und bietet einen realistischeren Blick darauf, wie Menschen Risiken bewerten und Entscheidungen unter Unsicherheit treffen. Sie zeigt auf, dass Menschen in ihren Entscheidungen von Gewinnen und Verlusten relativ zu einem bestimmten Referenzpunkt beeinflusst werden und nicht nur auf die Endausgänge achten.
  • Verlustaversion: Ein zentrales Element der Prospect Theory ist das Konzept der Verlustaversion. Kahneman & Tversky demonstrierten, dass Menschen Verluste stärker gewichten als gleichwertige Gewinne, was tiefgreifende Auswirkungen auf ihr Entscheidungsverhalten hat. Diese Erkenntnis hat unser Verständnis darüber, wie Entscheidungen in der realen Welt getroffen werden, grundlegend verändert und beeinflusst zahlreiche Felder, von der Wirtschaft bis zur Politik.
  • System 1 und System 2: In seinem Buch "Schnelles Denken, langsames Denken" vertieft Kahneman die Idee, dass unser Gehirn zwei verschiedene Arten von Denkprozessen nutzt: System 1, das schnell und intuitiv ist, und System 2, das langsamer und logischer arbeitet. Diese Unterscheidung hilft zu erklären, warum Menschen in bestimmten Situationen anfällig für Fehler sind und wie kognitive Verzerrungen unser Urteilsvermögen beeinflussen.
  • Noise: In seinem späteren Werk "Noise" erforscht Kahneman, wie zufällige Schwankungen in Urteilsprozessen – der "Noise" – zu inkonsistenten Entscheidungen führen können. Dies erweitert das Verständnis von Urteilsfehlern über systematische Verzerrungen hinaus und zeigt auf, wie wichtige Entscheidungen durch irrelevant erscheinende Faktoren beeinflusst werden können.

Kahnemans Arbeit (insbesondere in der Kooperation mit Amos Tversky) hat nicht nur die Verhaltensökonomik, sondern auch die Sozialpsychologie, das Risikomanagement und viele andere Bereiche beeinflusst. Seine Erkenntnisse haben dazu beigetragen, dass empirische und experimentelle Methoden in den Wirtschaftswissenschaften stärker berücksichtigt werden.

Lernpfad Customer Journey Management

Deutung seiner Arbeit für das Customer Experience Management

Die Arbeit von Daniel Kahneman wird auch von vielen CX-Experten zur Erklärung der Bedeutsamkeit von Kundenerlebnissen und dem Einfluss von vergangenen Kundenerfahrungen auf zukünftige Kaufentscheidungen herangezogen.

  1. System 1 und System 2 Denken: Kahneman unterscheidet in seinem Werk "Schnelles Denken, langsames Denken" zwischen zwei Arten des Denkens: System 1 (schnell, intuitiv) und System 2 (langsam, rational). Diese Unterscheidung hilft Unternehmen zu verstehen, wie Kunden Entscheidungen treffen. Viele Kundenentscheidungen werden durch System 1 getrieben, was bedeutet, dass sie stark von Emotionen und unbewussten Prozessen beeinflusst sind. Für das Experience Design empfehlen daher Bruce Trempkin und Isabelle Zdatny (vom Qualtrics XM Institute) im Behavioral Guide to Customer Experience Design, dass Unternehmen ihre Kunden in die für die Kunden passende Richtung lenken (Nudging) und ihnen helfen sollten, ihre Ziele zu erreichen (Assisting) sowie ihr Gesamterlebnis zu verbessern (Enhancing).
  2. Peak-End-Regel: Kahnemans Forschung zur Peak-End-Regel zeigt, dass Menschen ihre Erfahrungen hauptsächlich basierend auf dem Höhepunkt (dem intensivsten Punkt) und dem Ende einer Erfahrung bewerten, nicht auf deren Gesamtdauer. Für das Customer Experience Management bedeutet das, dass besonders positive Erfahrungen am Höhepunkt und am Ende der Kundeninteraktion geschaffen werden sollten, um eine insgesamt positive Erinnerung zu hinterlassen. Im Lernpfad „Customer Journey Management“ beschreibt Annika Björck, dass es auf die Dramaturgie-Linie der Erlebnisabfolge ankommt, ob am Ende ein positives oder negatives Urteil entsteht.
  3. Verlustaversion: Kahnemans Arbeit zur Verlustaversion, ein Kernkonzept der Prospect-Theorie, zeigt, dass erwartete Verluste stärker wiegen als gleichwertige potenzielle Gewinne. Im Kontext von CXM bedeutet das, dass erwartbare negative Kundenerlebnisse einen stärkeren Einfluss auf die Kundenwahrnehmung haben können als unerwartete Wow-Momente. Von vornherein komplexe Abfrageformulare sind damit immer stärker negativ belegt - als der Vorteil mit einer Formularseite evt. alle Fragen in einem Prozessschritt erledigt zu haben. Unternehmen müssen daher darauf abzielen, negative Erlebnisse zu minimieren, da diese disproportionalen Einfluss auf die Kundenzufriedenheit und -loyalität haben.
  4. Framing: Die Art und Weise, wie Optionen präsentiert oder "gerahmt" werden, beeinflusst die Entscheidungen der Kunden. Dies ist besonders relevant für die Kommunikation von Unternehmen mit ihren Kunden. Durch geschicktes Framing können Unternehmen die Wahrnehmung von Produkten und Dienstleistungen positiv beeinflussen und die Entscheidungsfindung der Kunden lenken.

Die Arbeit von Daniel Kahneman bietet wertvolle Einsichten für das Customer Experience Management. Sie betont die Bedeutung des Verständnisses menschlichen Verhaltens und der psychologischen Mechanismen hinter Entscheidungsfindungsprozessen. Indem Unternehmen diese Erkenntnisse nutzen, können sie effektivere Strategien zur Verbesserung der Kundenerfahrung entwickeln und implementieren.

Daniel Kahnemans Vermächtnis: Von Heuristiken bis Kundenerlebnis

Daniel Kahneman hinterlässt mit seinem Tod ein außergewöhnliches Erbe, das das Fundament der Verhaltensökonomie und das Verständnis von menschlichem Entscheidungsverhalten nachhaltig geprägt hat. Seine Erkenntnisse zu Heuristiken, Verzerrungen und dem dualen Prozess des Denkens haben tiefgreifende Implikationen für das Customer Experience Management.

Kahnemans Forschung bietet eine wertvolle Perspektive darauf, wie Unternehmen Kundenerlebnisse gestalten können, indem sie die intrinsische Natur menschlicher Entscheidungsfindung berücksichtigen. Durch die Anwendung von Konzepten wie der Peak-End-Regel, Verlustaversion und Framing können Unternehmen gezielt positive Kundenerfahrungen schaffen und die Kundenbindung stärken.

Kahnemans Arbeit erinnert uns daran, dass ein tiefgehendes Verständnis des menschlichen Verhaltens essenziell ist, um effektive Strategien im Customer Experience Management zu entwickeln.

Sein Vermächtnis sind statistisch erklärbare Nachweise über menschliches Handeln. Sie helfen Entscheidungs- und Beurteilungsvorgänge systematisch zu entschlüsseln und zu erklären und bieten zahlreiche Ansatzpunkte, um mit der systematischen Koordination von Kundenerlebnissen Kaufentscheidungen unterstützen zu können.

Quellen: