Über den Wert und die Entwicklung einer CX Governance

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Können Sie bitte kurz erläutern, was eine CX Governance ist und warum sie wichtig ist?  

Governance bezeichnet allgemein das Steuerungs- und Regelungssystem im Sinn von Strukturen (Aufbau- und Ablauforganisation) des Unternehmens. Häufig wird es auch im Sinne von Steuerung oder Regelung der Organisation verwendet. Der Begriff Governance wird häufig unscharf verwendet.  

Bei der CX Governance geht es um die Regelung des Ablaufs von Customer Experience Management im Unternehmen. Es bezeichnet also die Fähigkeit des Unternehmens, sich organisatorisch so aufzustellen, dass durchgehende, differenzierende Kundenerlebnisse ermöglich werden. Die Kernfrage ist:  

Wer betreibt eigentlich Customer Experience Management?  

Zwar haben die meisten Unternehmen eine Abteilung, die so benannt wird. Deren Impact ist jedoch stark davon abhängig, wie sich diese Abteilung versteht und mit welcher hierarchischen Befugnis diese im Alltag ausgestattet ist. Dabei steht vor allem im Vordergrund, ob das Kundenerlebnis eine nennenswerte Rolle bei Investitions- oder Projektentscheidungen spielt. 

Wie weit sind Unternehmen Ihrer Erfahrung nach beim Verstehen und Umsetzen einer CX Governance?  

Vielleicht beginnen wir einmal mit dem Verständnis. Ein typischer geringer Reifegrad zeigt eine Abteilung, die auf der dritten oder noch tieferen Hierarchie-Ebene im Bereich „Marketing“ angesiedelt ist und die sich primär mit der Erfassung und dem Design von Customer Journeys auseinandersetzt. Ein hoher Reifegrad hingegen wäre eine Bereichsfunktion, die sich im Auftrag des CEO mit den Regeln der Kundenorientierung auseinandersetzt und andere Organisationseinheiten befähigt, systematisch im Sinne des Kunden zu denken und zu handeln.  

Amazon-Gründer Jeff Bezos hat das in seinem Unternehmen ebenso systematisch wie pragmatisch umgesetzt. Bei jeder Sitzung wird der inzwischen legendäre leere Stuhl für den Kunden an den Tisch gestellt. Jede Entscheidung wird auch im Hinblick auf die Auswirkungen auf den Kunden betrachtet, und diese Betrachtungen fließen in die schlussendliche Entscheidungsfindung ein. Nun stellt sich die Frage, wie Unternehmen, die heute noch mehrheitlich inside-out geführt werden, schlagkräftige Entscheidungsgremien aufstellen, in denen der Kunde repräsentiert wird. 

Lernpfad Customer Journey Management

Wie können auch andere Organisationseinheiten außer dem Marketing und Vertrieb befähigt werden, systematisch im Sinne des Kunden zu denken und zu handeln?   

Die Rolle einer organisatorischen „CX-Einheit“ muss sich in diesem Zusammenhang vom Designer zum Befähiger wandeln. Das bedeutet aber auch, dass CX-Manager sich ein gutes Stück weit als Change Agents verstehen müssen. Grundsätzliche Fähigkeiten, beispielsweise zum Design einer Customer Journey, sollten in diesem Zusammenhang alle kundenorientierten Funktionen in Marketing, Vertrieb und Service haben, die an der Optimierung der Aufbau- und Ablauforganisation (also der Prozessgestaltung) arbeiten.  

In diesem Zusammenhang muss auch das Problem organisatorischer Silos noch einmal thematisiert werden. Eine Customer Journey ist aus Sicht des Kunden immer durchgängig. Kunden sind an der Lösung ihrer eigenen Probleme, ihrer „Jobs to be Done“ interessiert. Wer im Unternehmen welche Aufgabe und Verantwortlichkeit hat, interessiert sie nicht. 

Daher geht es bei der CX Governance auch um eine organisatorische Durchgängigkeit und Ermöglichung dieser Orientierung auf die „Jobs“ des Kunden. Grundsätzliche Regeln für das Mitarbeiterverhalten, wie „Kundenhilfe vor Abteilungsgrenze“, sind in diesem Zusammenhang notwendig, um so etwas zu ermöglichen. Gleichzeitig ist es wichtig, den (finanziellen) Spielraum einzelner MitarbeiterInnen zu definieren und gegebenenfalls zu erweitern, um die Organisation nicht nur agil zu entwickeln, sondern auch im einzelnen Geschäftsvorfall agil agieren zu können. 

Ökonomisch unsichere Rahmenbedingungen bestimmen die Aussichten für 2023. Wie kann die Etablierung einer CX Governance trotzdem gelingen?  

Aus den Antworten zu den vorherigen Fragen ist klar geworden, dass der Arbeitsbereich „CX Governance“ die grundlegenden „Spielregeln“ davon definiert, was Customer Experience Management für eine Organisation bedeutet. Und das stellt (heute noch) für die meisten Unternehmen eine Abkehr vom bisherigen Management dar.  

Die Autoren des CEX Trendradars, Harald Henn und ich, gehen daher davon aus, dass sich dieser Trend am langsamsten von allen CX-Trends entwickeln wird. Der Grund ist, dass die Notwendigkeit für ein derart radikales Umdenken häufig noch nicht gesehen wird. Leuchtturmprojekte, wie sie im CEX Trendradar auch 2023 wieder beschrieben werden, geben uns aber Anlass zur Hoffnung, dass gerade neu- oder wiedergegründete Unternehmen auf der „grünen Wiese“ solche Überlegungen zur CX Governance von vornherein als Teil Ihres Business-Modells etablieren.  

Für etablierte Unternehmen ist dies mit einer enormen Veränderung verbunden. Hier ist es wichtig, dass Vorstände und Geschäftsführer folgende Einsicht gewinnen: Die Ausrichtung der Strategie auf nachhaltig positive Kundenerlebnisse wird nur dann gelingen, wenn sie das ganze Unternehmen betrifft und umfasst. Einzelne Abteilungen, wie Marketing oder Kundenservice, werden isoliert wenig ausrichten. Auch müssen der Kunde in jeder Investitions- und Projektentscheidung als Stakeholder gesehen sowie Entscheidungen auch an den Bedürfnissen und Ansprüchen der Kundschaft ausgerichtet werden.  

Wir bedanken uns für das Gespräch, Professor Hafner


Prof. Dr. Nils Hafner ist internationaler Experte für die Entwicklung nachhaltig profitabler Kundenbeziehungen. Er ist Professor an der Hochschule Luzern. Zusammen mit Harald Henn gibt er den CEX Trendradar heraus, über dessen Ergebnisse er als Keynote-Speaker etwa 30 Mal pro Jahr vor ausgewählten Entscheidungsträgern referiert.