
Auf LinkedIn bekam ich dieser Tage den aktuellen Newsletter-Post von Howard Tiersky in den Feed gespült. Der provokante Titel: „AI is killing my career as a designer of digital experiences“. Seine These: Klassische grafische Interfaces verlieren angesichts agentengesteuerter Systeme an Bedeutung – UX-Design wird überflüssig, weil KI das Nutzererlebnis übernimmt.
Das wirft Fragen auf, die wir in verschiedenen Shift/CX-Diskussionen schon häufiger aufgegriffen haben: Wie verändert sich Experience Design, wenn KI Interaktionen steuert? Welche Rolle spielen klassische Interfaces noch? Und wie gestalten wir digitale Erlebnisse in Zukunft?
Einen Teil dieser Diskussion haben wir bereits in unserem Beitrag „Agentic AI: Das Ende der Website oder eine neue Ära der Experience-Gestaltung?“ aufgegriffen – dort noch aus theoretischer Perspektive. Auf der Shift/CX Konferenzwoche 2025 wurde das Thema konkreter: Im Schwerpunkt „Digital Experience Orchestration & Personalisierung“ am 13. März ging es um neue Designprinzipien, die Rolle von KI in der Gestaltung und die kulturellen wie technischen Herausforderungen der Umsetzung.
In diesem Beitrag greife ich drei Perspektiven aus diesem Programmslot auf – von Marije Gast, Hela Ammar und dem abschließenden Panel mit Daniela Kleck und Franziska Weber – und zeige, was sich im Experience Design verändert, was bleibt – und welche Fragen wir uns im Projektalltag stellen müssen, wenn wir Experience-Systeme zukunftsfähig gestalten wollen.
Neues Denken für digitales Experience Design – Marije Gast
Marije Gast (Accenture Song) eröffnete den Themennachmittag mit einem strategischen Blick auf die Leitprinzipien zukunftsfähiger Digital Experiences – und stellte eine Grundfrage in den Raum: „Was macht ein Erlebnis wirklich aus – und wie wird es konsistent erlebbar?“ Ihre Antwort: Eine gute Experience ist ein eingelöstes Versprechen – und dieses Versprechen muss an allen digitalen Kontaktpunkten eingelöst werden können.
Dabei denkt sie Experience Design nicht als Insellösung, sondern als integrativen Ansatz, der Geschäftsziele, Markenidentität und Nutzenerwartung systematisch verbindet. Aus dieser Perspektive entwickelte sie vier Prinzipien, die in der aktuellen Praxis häufig zwar bekannt sind, aber selten konsistent und integrativ umgesetzt werden:
- Kontextualität
Digitale Interaktionen beginnen nicht auf der Website – sie starten dort, wo der Nutzer sich befindet: beim Suchen, Vergleichen, Navigieren durch Touchpoints. Die Website ist nur ein Bestandteil eines komplexen Ökosystems. Unternehmen sollten ihr digitales Angebot stärker rationalisieren, um Nutzer:innen zielsicher durch die richtige Journey zu führen – ohne Reibung, ohne Brüche. - Konsistenz durch Designsysteme
Ein modernes Designsystem ist heute nicht mehr nur eine Figma-Datei, sondern ein umfassendes Steuerungssystem: Es bildet Templates, Rollenmodelle und Governance-Regeln ab – kurz: einen Werkzeugkasten für skalierbares, markenkonformes Arbeiten in interdisziplinären Teams. - User-Centricity – neu gedacht mit Mindsets
Die klassische Persona reicht nicht mehr aus. Mit Mindsets wie dem „Status Seeker“ oder dem „Peace of Mind“-Typ werden Erlebnisse in Inhalt, Funktion und Tonalität situativ personalisiert. KI-gestützte, synthetische Nutzer:innen simulieren reales Verhalten und ermöglichen skalierbares Testing. - Conversational – das Interface wird dialogisch
Die Zukunft ist dialogisch – aber nicht ausschließlich. Conversational Interfaces und agentische Systeme schaffen neue Interaktionsmuster, die über Sprache und Kontext funktionieren. Marije betonte: Es geht nicht darum, Webseiten durch Chatbots zu ersetzen, sondern um eine zusätzliche, intuitive Ebene der Interaktion.
In der Rückschau wird deutlich: UX Design hat sich lange auf den einen zentralen Touchpoint konzentriert – meist die Website, ergänzt durch App- oder Portallogiken. Ziel war es, diese Kanäle so nutzerfreundlich und konsistent wie möglich zu gestalten.
Mit den neuen Anforderungen, die Marije skizziert, verschiebt sich der Fokus: Nicht das Interface steht im Mittelpunkt – sondern die Fähigkeit, Erlebnisse über verschiedene Kontexte hinweg konsistent zu gestalten. Die Prinzipien, die sie formuliert, sind eine direkte Antwort auf den Wechsel vom Single Interface Design zur Multiexperience-Orchestrierung – ein Ansatz, der die Vielfalt von Touchpoints, Kanälen und Nutzerbedürfnissen aktiv einbezieht.
Gerade deshalb kann die Conversational UI nicht als neue monolithische Lösung gehandelt werden – auch wenn Tierskys LinkedIn-Post das anklingen lässt. Stattdessen braucht es ein systemisches Verständnis von Experience, in dem auch KI-Dialoge nur ein Baustein unter vielen sind.
Der komplette Beitrag von Marije Gast in der Shift/CX Mediathek
KI als Design-Katalysator – Hela Ammar
Wenn wir wissen, was gute digitale Erlebnisse heute leisten müssen, stellt sich unmittelbar die Frage: Wie gestalten wir sie konkret – in einer Welt, in der KI zunehmend Prozesse, Inhalte und Interaktionen beeinflusst? Genau hier setzte Hela Ammar (Triplesense Reply) an. Ihr Fokus lag auf der praktischen Gestaltung von Experience-Systemen unter dem Einfluss von KI – mit einem klaren Plädoyer: KI verändert nicht das Ziel guter Gestaltung, wohl aber die Mittel, Rollen und Rahmenbedingungen.
Anhand der Phasen eines typischen Designprozesses zeigte sie, wie KI heute schon Gestaltung unterstützt – nicht als Ersatz, sondern als Verstärker von Kreativität, Empathie und Effizienz:
- In der Research-Phase identifiziert KI relevante Muster in großen Datenmengen und hilft, Nutzerbedürfnisse schneller zu verstehen.
- In der Ideation übernimmt sie die Rolle eines kreativen Sparringspartners, der auf Knopfdruck Perspektiven, Varianten oder neue Verbindungen vorschlägt.
- Im Prototyping beschleunigt KI die Entwicklung und erlaubt frühzeitige Tests.
- Beim Testing liefert sie Echtzeit-Auswertungen, die iterative Verbesserungen in kürzeren Zyklen ermöglichen.
Aber KI bleibt nicht beim Assistenz-Modus stehen. Mit Beispielen wie Alexa+ oder Claude Sonnet zeigte Hela, wohin die Reise geht: Agenten, die nicht nur reagieren, sondern Entscheidungen vorbereiten, Stimmungen erkennen und selbstständig handeln. Experience Design bekommt damit eine neue Aufgabe – nicht mehr die Oberfläche steht im Zentrum, sondern das Verhalten von Systemen und die Gestaltung von Beziehungsmustern zwischen Mensch und Maschine.
Diese Entwicklung bringt neue Anforderungen mit sich:
- Designer:innen müssen heute nicht nur visuelle Oberflächen entwerfen, sondern Systemverhalten, Dialoglogik und Entscheidungspfad gestalten.
- Sie benötigen ein tiefes Verständnis für Trust Design – also die Frage, wie Systeme transparent, erklärbar und kontrollierbar bleiben.
- Gleichzeitig müssen sie sicherstellen, dass Markenidentität auch jenseits der grafischen Gestaltung erfahrbar bleibt – etwa durch Tonalität, Reaktionsverhalten und den Umgang mit Kontext.
Hela sprach dabei offen über die Grenzen aktueller Systeme – etwa wenn generative Systeme zwar individuell reagieren, aber nicht automatisch sinnvoll handeln. Hier sei die Aufgabe des Designs, ethische Leitplanken, Fallback-Logiken und emotionale Intelligenz in technische Systeme zu übertragen. Ihre Vision ist kein perfekter Conversational Agent, sondern ein gut orchestriertes Zusammenspiel aus technischer Fähigkeit, menschlichem Feingefühl und strategischer Steuerung.
Was dabei heute schon möglich ist, zeigte sie am Beispiel eines Reisebegleiters, der mit Hilfe von GenAI nicht nur Reisen plant, sondern aktiv Empfehlungen ausspricht, Inhalte anpasst, Präferenzen erkennt und den Nutzer über alle Kanäle hinweg begleitet. Ein Szenario, das zeigt, wie sehr Erlebnisse künftig jenseits klassischer Interfaces entstehen – eingebettet in Systeme, die zuhören, lernen und handeln.
Damit liefert Hela Ammars Beitrag eine wichtige Korrektur zur These von Howard Tiersky. Es geht nicht um die Ablösung des visuellen Interfaces durch Conversational UI – und auch nicht darum, alle Gestaltung in agentische Systeme zu verlagern. Im Zentrum steht nicht das Interface selbst, sondern der Interaktionsfluss: Wie Nutzer:innen in eine Handlung geführt werden, wie Systeme darauf reagieren, und wie sich dabei Markenidentität, Vertrauen und Intention entfalten.
Ob eine Experience visuell, sprachlich oder automatisiert initiiert wird – entscheidend ist das Zusammenspiel aus Oberfläche, Interaktionslogik und Systemverhalten. Experience Design 2025 heißt: Wir gestalten nicht mehr nur die Touchpoints – wir gestalten die Choreografie der Interaktion.
Der komplette Beitrag von Hela Ammar in der Shift/CX Mediathek
Jetzt für Newsletter registrieren!
Erhaltet jeden Monat wichtige Impulse für Euer CX-Projekt mit unserem Newsletter!
Orchestrierung als Realitätstest – Diskussion mit Daniela Kleck & Franziska Weber
Wenn wir Experience Design als systemische Choreografie verstehen – mit Interaktionen, die kontextbasiert ausgelöst und über verschiedene Interfaces hinweg orchestriert werden – dann stellt sich zwangsläufig die Frage: Wie gelingt das in der täglichen Projektpraxis? In der abschließenden Diskussionsrunde mit Daniela Kleck (Mind Studios) und Franziska Weber (MSR Consulting Group) wurde deutlich, dass es nicht an Visionen mangelt – sondern an der strukturellen Befähigung zur Umsetzung.
Beide machten klar: Orchestrierung gelingt nur dann, wenn sie nicht mehr in Touchpoint-Silos gedacht wird, sondern ökosystemisch. Doch genau diese Perspektive fehlt in vielen Organisationen noch – entweder, weil Daten nicht integriert sind, oder weil sich niemand verantwortlich fühlt, die Journey als Ganzes zu steuern. Vor allem im Mittelstand fehlt häufig die gemeinsame Datenbasis, um personalisierte Erlebnisse überhaupt sinnvoll gestalten zu können. Wo Datensilos dominieren, scheitert jede Automatisierung – und auch jede KI.
Hinzu kommt die kulturelle Ebene: Die Diskussion zeigte, dass CX-Projekte zwar gestartet werden, aber selten durchgängig wirken – weil sie nicht crossfunktional geführt werden. Wenn Marketing, Vertrieb, Service und IT nicht an einem Tisch sitzen, bleibt Orchestrierung Stückwerk. Daniela Kleck schilderte, wie Projekte ins Stocken geraten, sobald sie operative Silos durchbrechen müssten. Es fehlt oft an integrativer Projektführung, die alle Perspektiven zusammenbringt – und an einem übergreifenden Zielbild, das von allen getragen wird.
Franziska Weber betonte, dass viele Unternehmen zwar erste Erfahrungen mit Customer Journeys gemacht haben, diese aber selten strategisch konsolidiert werden. Stattdessen entstehen Einzelprojekte – oft dort, wo motivierte Teams mit begrenztem Scope arbeiten dürfen. Das ist nicht falsch, aber zu wenig für eine nachhaltige Veränderung. Was fehle, sei eine Kombination aus klarer Projektmethodik und pragmatischem Vorgehen: Dort starten, wo der Schmerz am größten ist. Schnell Wirkung zeigen. Und daraus Momentum erzeugen – für eine breitere Veränderung.
Die Panelistinnen machten deutlich: Orchestrierte Erlebnisse entstehen nicht durch Tools oder Interfaces – sondern durch Zusammenarbeit. Und diese lässt sich nicht verordnen, sie muss entstehen: durch Vertrauen, durch strukturelle Unterstützung, durch Raum für gemeinsame Arbeit. Dafür braucht es crossfunktionale Teams, iterative Formate und eine Projektführung, die nicht abwartet, sondern integriert. Die Realität zeigt: Hier liegt derzeit der größte Engpass.
Damit wird auch klar: Die Diskussion um neue Interfaces, agentische Systeme oder dialogische Gestaltung – wie sie Tiersky anstößt – greift zu kurz, wenn sie nicht mit der organisatorischen Realität verzahnt wird. Es geht nicht um die Wahl des Interfaces, sondern um die Fähigkeit, einen konsistenten Interaction Flow über Systeme, Touchpoints und Teams hinweg zu gestalten. Wer Multiexperience-orientiert gestalten will, braucht keine neuen Oberflächen – sondern neue Formen der Zusammenarbeit und Verantwortung.
Der Mitschnitt zur Diskussion in der Shift/CX Mediathek
Fazit: Experience Design braucht neue Steuerungssysteme
Die Beiträge des Nachmittags haben deutlich gemacht: Experience Design verändert sich – nicht in seinem Ziel, aber in seinen Mitteln, seiner Struktur und seiner organisatorischen Einbettung. Die Gestaltung verlagert sich von der Oberfläche hin zur Orchestrierung von Interaktionen über Systeme und Touchpoints hinweg. Damit rücken neue Anforderungen in den Mittelpunkt: systemisches Denken, konsistente Interaktionslogik, Vertrauen in KI-gesteuerte Prozesse – und vor allem: die Fähigkeit zur Umsetzung in heterogenen, oft fragmentierten Organisationen.
Was dabei bleibt: Das Interface verschwindet nicht – aber seine Rolle wandelt sich. Ob visuell, dialogisch oder agentisch: Die Herausforderung liegt nicht in der Form, sondern in der Choreografie der Interaktion – im Zusammenspiel von Auslöser, Kontext, Handlung und Rückkopplung. Und genau hier entscheidet sich, ob Experience Design künftig wirklich den Erwartungen der Nutzer:innen gerecht wird.
Doch dieser Wandel wirft auch konkrete Fragen auf, die in Projekten und Teams heute zu klären sind:
- Wie lassen sich bestehende Designsysteme erweitern, damit sie nicht nur visuelle Standards sichern, sondern auch Dialoglogiken, Vertrauensanker und agentisches Verhalten abbilden?
- Wie machen wir Markenidentität erlebbar, wenn Systeme im Namen der Marke sprechen, handeln und vorausschauend reagieren?
- Welche Rollen und Kompetenzen braucht es, um Experience-Orchestrierung in Organisationen strategisch und operativ zu verankern?
- Wie definieren wir Erfolg neu, jenseits von Click-Through-Rates – mit Metriken, die Interaktion, Vertrauen und Zielerreichung erfassen?
- Und wie starten wir, wenn noch nicht alle technischen oder organisatorischen Voraussetzungen erfüllt sind – ohne auf Wirkung zu verzichten?
Diese Fragen betreffen nicht nur einzelne Projekte – sie markieren den Handlungsrahmen für alle, die digitale Kundenerlebnisse zukunftsfähig gestalten wollen. Antworten darauf entstehen nicht im Elfenbeinturm, sondern in der konkreten Auseinandersetzung – in Teams, Prozessen, Systemarchitekturen.
Oder auch in Erfahrungsaustauschen wie bei den Veranstaltungen der Shift/CX - und konkret z.B. den Shift/CX Conventions in Frankfurt, Hamburg oder München.
Verpasse nicht die nächsten Termine der Convention-Reihe in Frankfurt am 15.05. und in Hamburg um 04.06.!
Jetzt kostenlos für Freemium-Zugang zur Shift/CX-Plattform registrieren!
- Zugang zu Freemium-Inhalten der Mediathek
- Drei Credits für Freischaltung von Premium-Inhalten
- Monatlicher Content-Newsletter mit Premium-Inhalten
- Zugang zu geschlossener Linkedin-Gruppe
- Besondere Plattform-Angebote über Shift/CX Updates
- Kostenlos für immer!
Wir legen großen Wert auf sachliche und unabhängige Beiträge. Um nachvollziehbar zu machen, unter welchen Rahmenbedingungen unsere Inhalte entstehen, geben wir folgende Hinweise:
- Partnerschaften: Vorgestellte Lösungsanbieter können Partner oder Sponsoren unserer Veranstaltungen sein. Dies beeinflusst jedoch nicht die redaktionelle Auswahl oder Bewertung im Beitrag.
- Einsatz von KI-Tools: Bei der Texterstellung und grafischen Aufbereitung unterstützen uns KI-gestützte Werkzeuge. Die inhaltlichen Aussagen beruhen auf eigener Recherche, werden redaktionell geprüft und spiegeln die fachliche Einschätzung des Autors wider.
- Quellenangaben: Externe Studien, Daten und Zitate werden transparent kenntlich gemacht und mit entsprechenden Quellen belegt.
- Aktualität: Alle Inhalte beziehen sich auf den Stand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung. Spätere Entwicklungen können einzelne Aussagen überholen.
- Gastbeiträge und Interviews: Beiträge von externen Autorinnen und Autoren – etwa in Form von Interviews oder Gastbeiträgen – sind klar gekennzeichnet und geben die jeweilige persönliche Meinung wieder.